07/2006 | FACHARTIKEL
Innovation in allen Teilen
Modulare Lackfabrik arbeitet nach völlig neuem Konzept
Die grundlegenden Verfahren der Lackindustrie haben sich, seit die halb automatische Silotechnologie vor ca. 5O Jahren eingeführt wurde, im Prinzip nicht geändert. Eine kürzlich angefahrene High-tech-Lackfabrik könnte nun neue Trends setzen. Sie ist modular aufgebaut, kommt ohne Silos aus und arbeitet unabhängig von der Chargengröße.
Die Lackherstellung zählt zu den eher konservativen Zweigen innerhalb der chemischen Industrie mit einem hohen empirischen Faktor. Natürlich gab und gibt es ständige Verbesserungen von Rezepturen, Optimierungen einzelner Verfahrensschritte oder computertechnische Modernisierungen. Eine wirklich umfassende Innovation schien dagegen lange nicht mehr in Sicht. Im Mai diesen Jahres ist in Klingenberg eine Produktionsanlage für Automobil-Hydrofüller erfolgreich angelaufen, die beweist, dass es auch anders gehen kann: Die modulare Lackfabrik des mittelständischen Automobillack-Herstellers Hemmelrath basiert auf einem völlig neuartigen Konzept der Lackherstellung (Abb. 1).
Umfassende AnforderungenAm Anfang der Entwicklungsarbeiten stand eine umfassende Vision. Was könnte und sollte anders angepackt werden bei einem High-tech-Prozess der anderen Art?
Unabhängigkeit von der Chargengröße
Das neue Verfahren sollte weitgehend chargengrößenunabhängig arbeiten. Für größere Bestellmengen, wie sie von Kunden aus der Automobilindustrie häufiger geordert werden, müssen bisher mehrere kleinere Chargen vereinigt werden. Für eine Großcharge mit homogener Qualität braucht es eine Anlage, die entsprechend hohe Produktmengen bewältigen kann - umgekehrt sollte die Anlage aber auch mit mittleren Chargen problemlos fertig werden.
Keine Silos
Wenig Platzbedarf bei hoher Effizienz war ein weiterer Punkt weit oben auf der Wunschliste. Die großen Silos heutiger Lackfabriken beanspruchen nicht nur viel Platz, sondern auch Energie und Zeit: Rohstoffe müssen per Druckförderung zunächst in das Silo hinein transportiert, später aus dem Silo heraus dem Prozess zugeführt werden. Die neue Anlage sollte daher ohne Silos auskommen.
Flexibilität
Was Kinder aus dem Fischer-Technik-Baukasten kennen, funktioniert im Prinzip auch bei verfahrenstechnischen Anlagen: Ein modularer Aufbau. Ein solches Konzept sorgt für eine höhere Flexibilität der Fabrik, Medien mit verschiedener Beschaffenheit können verarbeitet werden, die einzelnen Module sind nur dann in Betrieb, wenn sie gebraucht werden.
Höherer Wirkungsgrad
Ein weiterer Kernpunkt war die Forderung nach wesentlich höheren Wirkungsgraden, als herkömmliche Anlagen zu leisten vermögen. Bei einem üblichen Dissolver etwa werden bis zu 80 % der eingetragenen Energie in Wärme umgesetzt - verlorene Energie und zudem kontraproduktiv: Die schnell laufende Scheibe des Dissolvers erzeugt einen Viskositätsgradienten in einer hochviskosen Paste. Die dabei auftretende Scherung desagglomeriert die Partikel. Aufgrund der Erwärmung nimmt die Viskosität aber rasch ab - die Scherung läuft nicht mehr effizient. Ein weiteres Problem, insbesondere bei der Herstellung von Wasserlacken, ist Luft, die beim Dispergieren in den Ansatz hineingezogen wird. Anschließend muss diese mühevoll wieder entfernt werden.
Keine Emissionen
Die neue Lackfabrik sollte darüber hinaus sauber und möglichst abfallfrei laufen, daher die Forderung nach einem geschlossenen System. Möglichst keine Emissionen für einen besseren Umwelt- und Arbeitsschutz, weniger Abfall, weniger Reinigungsaufwand - eine rundum saubere Lösung wurde angestrebt.
Im Fokus dieser Überlegungen stand und steht dabei die Qualität der Produkte für einen der anspruchsvollsten Kunden der Lackindustrie: Die Automobilbranche.
Über den Tellerrand geschaut
Um den Forderungskatalog in die Realität umzusetzen galt es, völlig neue, unbekannte Wege zu beschreiten. Einige der nötigen Inspirationen stammen dabei aus einem anderen Wirtschaftszweig, der Lebensmittelindustrie. Bei der Lebensmittelproduktion laufen viele Verfahrensschritte ab, die denen der Lackindustrie sehr ähnlich sind. Das technische Niveau ist im Vergleich jedoch deutlich höher. Warum also nicht den einen oder anderen Lösungsansatz aus der Lebensmittel- in die Lackbranche übertragen?
Dank dieser Herangehensweise gelang es, die bisherige konventionelle halbautomatische Dissolverfertigung bei Hemmelrath mit ihrem maximalen Fertigungsvolumen von 5 t pro Ansatz und einer Fertigungskapazität bis zu 7.000 to pro Jahr, ihrer zeitaufwendigen Silodosage und ihren Standard-Mahlprozessen durch eine innovative Fabrik zu ersetzen. Die neue Anlage stellt ein Fertigungsvolumen von 5 bis 40 t pro Ansatz zur Verfügung und erreicht eine maximale jährliche Fertigungskapazität von 20.000 t. Dabei kommt sie mit 50 % des Energiebedarfs aus. Ihre Erfolgsgeheimnisse sind
- Rotor-Stator-Dispergiertechnik
- Leitstrahlmischtechnik
- Rohstoffdosage von flüssigen Medien (Slurrys, Farbpasten, Halbfabrikate)
- effiziente Mahltechnik
- online Siloentladung
- Prozesshandling im geschlossenen System
- SPS-gesteuerte Instandhaltung
Rotor-Stator-Technik: Luftfrei dispergieren in Minuten
Statt mit den üblichen Dissolvern erfolgt die Dispergierung der zu verarbeitenden pulverförmigen Rohstoffe nun in einem als Prozessmodul bezeichneten System. Herzstück ist eine Conti-TDS-Dispergiereinheit (TDS = Transporting Dissolving System), die nach dem Rotor-Stator-Prinzip arbeitet (Abb. 2). Dabei wird das Medium axial in einen Dispergierkopf gesaugt, um 90° umgelenkt und durch die Schlitze des Rotors gedrückt, während der Rotor mit sehr hohen Drehzahlen von bis zu 3.600 Umdrehungen pro Minute rotiert. Der feststehende Stator hat ebenfalls Schlitze, durch die das Medium austritt. Dabei wird das Misch- gut einer sehr großen Scher- und Schubbeanspruchung ausgesetzt. Innerhalb von Millisekunden ist das eintretende Pulver schon benetzt. 1 Tonne Feststoff lässt sich so in 3 min benetzen und dispergieren. Da die Dispergiereinheit in sich geschlossen ist, kann auch keine Luft in die Suspension eingebracht werden.
Beim Schmieden der Pläne kristallisierte sich rasch ein Problem heraus: Derartige Dispergiereinheiten in der gewünschten Baugröße und mit dem benötigten Geschwindigkeitsprofil waren nicht am Markt. Eine Spezialfirma wurde eigens mit der Entwicklung eines entsprechend großen TDS-Moduls beauftragt. Dieser neue Typ läuft nun mit einer Antriebsleistung von 250 kW, einer maximalen Umpumpleistung von 190 m3/h und einem maximalen Energieeintrag innerhalb von Millisekunden.
Ein positiver Nebeneffekt des Dispergierers nach dem Rotor-Stator-Prinzip: Durch die schnellen Umdrehungen wird ein Vakuum erzeugt. Im Prozessmodul wird dieses genutzt, um pulverförmige Rohstoffe aus einem Pulvervorlagebehälter beziehungsweise aus Big Bags in die Dispergiereinheit einzusaugen. Der Pulvervorlagebehälter speist sich direkt aus Silo-LKWs. Mit dieser Technik ist die Fracht eines LKW schneller entladen und dispergiert als das Pulver auf konventionelle Weise in ein Silo gepumpt ist.
Bei großen Dispersionslackanlagen stecken heutzutage bis zu 50 % des Investitionsvolumens in der Silotechnik. Die neue Anlage schafft das Kunststück, sich aus Silo-LKWs speisen zu lassen, ohne Silos zu benötigen.
Rühren per Leitstrahl
Aus der Dispergiereinheit gelangt das dispergierte Pulver in ,einen der beiden 30.000 1 fassenden Prozesstanks. Auch hier nichts Konventionelles: Statt mit herkömmlichen Rührwerken wird mit Leitstrahltechnik homogenisiert.
Die Funktion eines Leitstrahlmischers beruht im Grunde auch auf dem Rotor-Stator-Prinzip: Der Stator hat hier die Form eines Leitrohrs und umgibt einen schnell laufenden Rotor, der einen Flüssigkeitsstrom erzeugt (Abb. 4). Das Leitrohr leitet die entstehende Strömung direkt auf den Behälterboden und verhindert, dass der Behälterinhalt in Rotation versetzt wird. Am Behälterboden teilt sich der nach unten gerichtete Leitstrahl und erzeugt an der Außenwand eine nach oben gerichtete Strömung. An der Flüssigkeitsoberfläche angelangt strömt das Medium dann wieder zum Behälterzentrum, so dass der gesamte Behälterinhalt intensiv vertikal durchmischt und eine homogene Verteilung rasch erreicht wird.
Da sich der Rotor unten im Behälter dreht, ohne dass Wirbel entstehen, und die Oberfläche des Rührguts ruhig bleibt, wird bei dieser effizienten Mischtechnik keine Luft eingebracht, die später mühevoll entfernt werden muss. Die Einheit arbeitet weitgehend unabhängig von der Höhe des Füllstands, so dass kleine wie große Chargen flexibel produziert werden können. Dabei kommt die Leitstrahltechnologie mit weniger Energie aus als herkömmliche Rührer.
Nicht nur die Prozesseinheit, sondern auch die Mischtank-, Slurry- und Bindemittelhalbfabrikat-Module arbeiten mit Leitstrahlmischern (Abb. S). Die Leitstrahlmischer sind stufenlos regelbar und haben eine Antriebsleistung von 30 kW.
Eine Perlmühle bricht Rekorde
Dass die bisherige, 1999 errichtete Produktionsanlage ihre Leistungsgrenze erreicht hatte, liegt vor allem an ihrem konventionellen Mahlprozess. Bottleneck sind die Perlmühlen, die üblicherweise nur 1 Tonne Mahlgut pro Stunde bewältigen. Die Perlmühlentechnik als solche sollte auch beim neuen Verfahren beibehalten werden, da eine besonders feine, effektive Mahlung für Autoserienlacke notwendig ist. Aber der Durchsatz sollte drastisch erhöht werden. Allerdings gab es bis dato keine für den Lackbereich geeigneten Perlmühlen mit einem Durchsatz, der sich auch nur annähernd in der gewünschten Größenordnung bewegte.
Die Lösung hieß auch hier wieder Spezialanfertigung. So bricht die extra entwickelte Perlmühle alle Rekorde, ist sie doch in der Lackbranche die mit Abstand größte ihrer Art. Sie kann mit einer Antriebsleistung von 200 kW und einem Mahlkammervolumen von 540 1 mehr als 10 Tonnen Mahlgut pro Stunde bewältigen (Abb. 6). Die Maschinensteuerung des Mahlmoduls wurde in Eigenleistung in die speicherprogrammierbare Steuerung (SPS) der Anlage integriert.
Homogene Komplettchargen mit höherer QualitätDie Kunden aus der Automobilindustrie verlangen für Hydrofüller Korngrößen unter 15 pm. Die neue Anlage liefert Produkte, in denen die Kornfeinheit deutlich unter dieser Grenze liegt.
Durch die chargengrößenunabhängige Produktion erhält der Kunde, wie bereits erwähnt, eine homogene Komplettcharge mit höherer Qualität. Weitere Vorteile der modularen Anlage sind kürzere Herstell- und Prozesszeiten bei einer hohen Produktvariabilität durch flexiblen Einsatz flüssiger Rohstoffe. Eine SPS-gesteuerte Instandhaltung soll die Anlagenverfügbarkeit und damit die Lieferzuverlässigkeit erhöhen.
Durch das neue Konzept fallen viele einfache Arbeitsgänge und Handgriffe wie das Aufschneiden von Sackware oder Reinigungsarbeiten weg. Diese freiwerdenden Kapazitäten sollen nun gezielt in das Finetuning der Produkteigenschaften investiert und somit das Qualitätsniveau weiter gesteigert werden. Denn darin ist die eigentliche Kernkompetenz einer Lackfabrik an einem hochtechnisierten Standort wie Deutschland zu sehen.
Perfekte Abstimmung der Module ist essenziellDie 13 einzelnen Module der neuen Anlage müssen perfekt ineinandergreifen, damit die Fertigung nach dem neuen Konzept reibungslos laufen kann. Die Steuerung der Anlage erfolgt über tragbare Softtouch-Laptops (Abb. 7) und WLAN. Über 2.800 Einzelsignale sind zusammenzuführen.
Ein Additiv-Modul (Abb. 8) sorgt dafür, dass flüssige Zusatzstoffe grammgenau und sekundenschnell (300 m3 /h) eingesaugt werden, statt sie in den Mischbehälter zu pumpen oder zu drücken. Farbpasten oder Hilfsstoffe werden unter Spiegel dosiert, die Einmischung geht Spritzer frei von statten eine ungewöhnlich saubere Angelegenheit. Die totvolumenfreien Ventile, über die diese Module direkt an das Mischtankmodul angedockt werden, sorgen für ein geschlossenes System. Abb. 9 zeigt das Tön- und Hilfsstoffmodul. Die modulare Anlage setzt damit auch in Bezug auf Umweltschutz und Arbeitssicherheit neue Maßstäbe. Hier ldeckert oder staubt nichts. Weitere essentielle Details sind wäge Zellen, die 40 t auf 1 kg genau dosieren können.
Während zur Reinigung bisher eine Spezialfirma beauftragt werden musste, wird bei der neuen Anlage einfach ein automatisches Reinigungsmodul (Abb. 10) angedockt. Der Sprühkopf dieses Hochdruckreinigers ist so konstruiert, dass er alle Ecken erreicht.
Umstellung auf Halbfabrikate in der Rohstoffindustrie?Langfristig ist die neue Anlagentechnologie auf flüssige Rohstoffe ausgelegt. In USA ist die Slurry-Technologie bereits wesentlich verbreiteter als in Europa. Damit die höheren Kosten für die Slurries wirtschaftlich interessanter werden, soll vermehrt auf Halbfabrikate umgestellt werden, die bereits mit mehr Funktionen ausgestattet sind.
Sollte das Konzept, vermehrt flüssige Halbfabrikate einzusetzen, auch bei anderen europäischen Lackherstellern Schule machen, würde dies enorme Auswirkungen auf die Rohstoffindustrie haben. Die Flexibilität der Rohstoffhersteller erhöht sich drastisch, wenn sie Halbfabrikate anbieten, da sie nicht mehr einen exakt determinierten Rohstoff liefern müssen, sondern, unabhängig von den konkreten Inhaltsstoffen, ein Produkt mit einer definierten Funktionalität. In absehbarer Zukunft könnte ein solcher Paradigmenwechsel bevorstehen.
Mut zum RisikoDie modulare High-tech-Lackfabrik war die bisher größte Einzelinvestition in der Hemmelrath-Firmengeschichte. Die Entscheidung für diesen Schritt entspringt dem Streben nach Technologie- und Qualitätsführerschaft - und könnte einen neuen Technologietrend anstoßen. Nur mit der Bereitschaft, eingetretene Pfade konsequent zu verlassen und Amortisationszeiten zu akzeptieren, die über die heute vielfach üblichen extrem kurzen Zeitspannen hinausgehen, kann es gelingen, eine wirklich umfassende Innovation aus der Taufe zu heben und neue Qualitäts-Standards zu setzen - entscheidende Voraussetzungen für mittelständische Unternehmen, die ihr Geschäft am Standort Deutschland längerfristig sichern wollen.
Hemmelrath betrachtet sich heute als Marktführer im Bereich Automobil-Hydrofüller. Ziel ist, als Komplettanbieter für Automobillacke aufzutreten. Klingenberg mit der modularen Lackfabrik soll der Standort für Füller werden (Abb. 11), der 10 km entfernt gelegene zweite Hemmelrather Produktionsstandort EisenfeldRück wird auf Basislack-Produktion umgestellt. Im Werk III in Obernburg werden bereits seit Herbst letzten Jahres Klarlacke hergestellt.

Magazin: Farbe und Lack
Ausgabe: 07/2006
Autor: Ralf Hohmann, Markus Hemmelrath

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